Ost / West
Wer in Berlin ueber die «Grenze» redet, meint damit meist jene Sektoren-Grenze der Alliierten, die zum groessten Teil mit der Berliner Mauer uebereinstimmte und 40 Jahre lang die gesamte Stadt entscheidend mitpraegte.
Doch die Grenze zwischen Ost und West an sich ist nicht die einzige interessante Grenze, die sich in Berlin finden laesst…
Antinukleare Zone Kreuzberg
1984 hat sich der (damalige) Stadtbezirk Kreuzberg «nuklearfrei» erklaert: Eine eher symbolische Geste des seit jener Zeit stark gruen gepraegten Bezirksparlaments. Und doch nicht ohne konkrete Auswirkungen — so unsichtbar und unbekannt diese Grenze auch ist. Auf Kreuzberger Boden duerfen keine hochradioaktiven Materialien gelagert werden — dies gilt auch fuer Forschungseinrichtungen.
Wuerden moeglichst viele Lokalparlamente diesem Beispiel folgen, koennte eine atomfreie Energiegewinnung bzw. eine echte Energiewende auf viel demokratischere Art und Weise durch gesetzt werden, als bisher in Deutschland der Fall ist. Auf Grundlage des selben Rechtsrahmens — nur von der Basis aus. Und vielleicht funktioniert dies ja auch in anderen Rechtssystemen!
Auf unserer Tour wird uns noch des Oefeteren die Frage begleiten: Wann sind Grenzen gut, wann sind sie schlecht? Die Grenze um die atomfreie Zone Kreuzberg kann bei dieser Diskussion sicher ein wichtiges Beispiel werden.
Staat / Nichtstaat
«Leben ohne Staat? — Wie denn sonst?» Wer in Alltagsgespraechen den Gedanken anschneidet, dass ein Gemeinwesen auch anders organisiert sein kann als durch einen europaeischen Nationalstaat in seiner gut 200 Jahre alten Form, erntet oft Kopfschuetteln und die Gegenfrage: «Aber wie denn sonst?»
Nicht, dass sich in einem Blog-Beitrag diese Frage beantworten liesse, derer sich schon seit Jahrtausenden Menschen gewidmet haben, die wir heute der Philosophie und den Politikwissenschaften zurechnen.
Was hier betont werden soll, ist nur ein kleiner, aber feiner Aspekt hinsichtlich der Staat-oder-Nichtstaat-Debatte, der allzu oft vergessen wird: Die Grenze um «West-Berlin» (und nichteinmal hier ist heute klar, welcher Begriff nun eigentlich der korrekte ist!) und der schwierig-schwammige politische Status dieses Territoriums machte Letzteres ueber 40 Jahre lang zu einem de-jure staatenlosem Gebilde. Immerhin ein Gemeinwesen von mehr als einer Million Menschen, das sich selbst als demokratisch bezeichnete, ohne offiziellen Staat nicht im Chaos versankt und im Vergleich zum Territorium ausserhalb der Mauer die Freiheit des Individuums staerker betonte.
Drei Grenz-Effekte auf die Berliner Besetzungs-Szene
«Koennen Grenzen gut sein?»: Die Frage wurde schon angerissen — und sie wird uns weiterhin begleiten. Druecken wir es einmal neutraler aus: Grenzen koennen durch produktiv sein und muessen nicht immer hemmend oder ausschliesslich abschottend wirken.
So auch in Bezug auf die Besetzungs-Szene Berlins, die gleich zweimal durch die Mauer-Grenze beeinflusst, wenn nicht sogar (mit) stimuliert wurde: In Kreuzberg-36, direkt an der Mauer gelegen und im Westteil der Stadt ohnehin schon ein Randgebiet, gab es keinen Grenzuebergang nach Ost-Berlin. Daher gab es keine Durchfahrtsstrassen, keinen Durchgangsverkehr — wer hierher fuhr, wollte nur hierher und nicht weiter. Es war das Ende der (westlichen) Welt. In einem Wirrwar von sicherlich noch mehr komplizierten Faktoren befluegelte diese doppelte Randlage den Verfall der Altbauten und eine neue Wohnbaupolitik des westberliner Senats: Die Abriss- und Neubau-Plaene steigerten noch den Verfall: Eigentuemer_innen investierten nicht mehr in ihre Gebaeude und warteten nur noch auf den guenstigsten Zeitpunkt fuer einen profitbringenden Verkauf an die Stadt mit ihren Neubau-Plaenen. Der zwar allem Anschein nach nur kurzfristig verfuegbare, aber nach wie vor vorhandene Wohnraum zog auf Grund seiner Substandard-Qualitaet ganz neue Gruppen mit geringem Einkommen an: Studierende, Migrant_innen, Aussteiger_innen, etc.
Nur ein paar Jahre spaeter waren nicht wenige dieser heruntergekommenen und vom Abriss bedrohten Altbauten besetzt — Kreuzberg war ab den spaeten 1970ern / fruehen 1980ern das Zentrum der Szene besetzter Haeuser.
Doch nicht nur die Randlage an der Grenze und der dadurch (mit) verursachte (Spekulations-)Verfall befluegelte die Besetzungs-Bewegung; es gab einen zweiten wichtigen Grenz-Aspekt, der der Sache dienlich war: Die Sektoren-Grenze und die Mauer stimmten hier nicht ueberein. Die Grenze verlief hier schon weit «vor» der Mauer. — d.h. die Mauer und die davor liegende Strasse befanden sich auf DDR-Staatsgebiet. Also auch die Eingaenge zu den Haeusern auf den Strassen an der Mauer. Dorthin — also auf DDR-Staatsgebiet! — durfte die westberliner Polizei natuerlich nicht vordringen; die Ost-Kollegen blieben sowieso «hinter» der Mauer. Was schon viele Jahre zum Zweck lautstarken Feierns bis spaet in die Nacht ohne die Moeglichkeit polizeilicher Intervention genutzt wurde, kam jetzt auch der Besetzungs-Bewegung zu Gute: Wie haette die Polizei raeumen koennen, ohne fremdes Territorium zu verletzen und eine internationale Krise (zumal im kalten Krieg!) loszutreten?
Damit noch nicht genug — aller guten Dinge sind Drei: Die Oeffnung der Grenze ab 1989, als die Kreuzberger Besetzungs-Bewegung bereits ihren Zenit ueberschritten hatte, befluegelte eine nochmalige Welle, eine Art «Revival» des Ganzen — vor Allem im oestlichen Nachbarbezirk Friedrichshain. Die Ausgangssituation war aehnlich: Randlage auf der Ostseite, verfallener Altbaubestand. Und mehr als ein Jahrzehnt Erfahrung mit Besetzungen in der «gleichen» Stadt. Dazu veraenderte Rahmenbedingungen: Vor allem was die Freizuegigkeit in der gesamten Stadt anging — bzw. auch die Freizuegigkeit jener, die von ueberall her genau wegen jener Besetzungs-Bewegung in das mauerlose Berlin kamen.